Gewaltsame Umstürze, politische Morde, Aktivistinnen und Aktivisten ohne Anklage im Gefängnis, Beschneidung der Pressefreiheit und Gewalt gegen Journalistinnen und Journalisten – ist die Demokratie in Gefahr? Um dieses brisante und aktuelle Thema ging es Freitagabend beim Königsteiner Salon, zu dem Dr. Martin Kasper, Gründer der Stiftung Childaid Network, ins Haus der Begegnung eingeladen hatte.
Dr. Anna Lührmann weist auf die Resilienz von Demokratien hin
Kompetente Gesprächspartnerin war Dr. Anna Lührmann, Staatsministerin für Europa im Auswärtigen Amt, enge Mitarbeiterin von Außenministerin Annalena Baerbock, Beauftragte der Bundesregierung für die deutsch-französische Zusammenarbeit und seit Januar 2022 Sonderbeauftragte für den Vorsitz Deutschlands im Ministerkomitee des Europarates, die sich seit vielen Jahren auch als Wissenschaftlerin mit diesen Themen beschäftigt.
„Demokratie ist erstaunlich resilient“, meinte sie, stimmte aber der These zu, dass Demokratie, früher als erstrebenswerte Staatsform weltweit in Mode, heute angesichts des globalen Siegeszugs antidemokratischer Autokraten, unter Druck geraten ist. Die meisten von ihnen seien jedoch nicht durch einen Putsch, sondern durch Wahlen an die Macht gekommen, denn sie böten den Bürgern einfache Lösungen für komplizierte Sachverhalte.
Bild: Dr. Anna Lührmann (Mitte), Staatsministerin für Europa im Auswärtigen Amt mit Sandra Hörbelt und Dr. Martin Kasper (beide ehrenamtlicher Vorstand Childaid Network)
Antidemokratische Prozesse geschehen schleichend
Erst wenn sie gewählt seien, höhlten sie schrittweise demokratische Rechte wie die Pressefreiheit und die richterliche Gewalt aus. Schleichende Autokratisierung, meinte sie, führe zu Unfreiheit und Unterdrückung, werde aber von den Autokraten als Freiheit ausgegeben, die sie durch geschickte Manipulation gleichzeitig entziehen.
Als Beispiele nannte die Bundesministerin, die in Hofheim ihr Abitur machte und bereits 2002 mit gerade einmal 19 Jahren als jüngste jemals gewählte Abgeordnete für die Grünen in den Bundestag zog, Recep Tayyip Erdoğan, der 2004 noch die Türkei in die Europäische Union führen wollte, seitdem schrittweise immer mehr Bürgerrechte und die Pressefreiheit einschränkt, dennoch erst im Mai dieses Jahres wiedergewählt wurde, allerdings ohne fairen Wettbewerb, weil er Oppositionelle massiv unter Druck setzte und ins Gefängnis werfen ließ. Mit brutaler Gewalt herrschen auch Autokraten wie Putin in Russland, Assad in Syrien und das Regime im Iran.
Gefahren für die Demokratie aber sieht sie auch in den USA und Brasilien. „Wenn der Geist erst einmal aus der Flasche ist, bekommt man ihn so schnell nicht wieder dorthin zurück“, so drückte es die Politikerin aus und macht sich auch Sorgen um die Republik Moldau, die sie erst kürzlich besuchte und in der Rußland durch Manipulation versucht an Einfluss zu gewinnen. „Ein faszinierendes Land mit einem großen Herzen und einer pro-demokratischen und pro-europäischen Präsidentin“, sagte sie.
Unzufriedenheit als eine der Ursachen für antidemokratische Prozesse
Auf die Frage nach den Gründen für die wachsende Autokratisierung hat sie keine einfachen Antworten. Als Nährboden sieht sie echte oder gefühlte Unzufriedenheit, ökonomische Unsicherheit durch steigende Preise und auch die Klimakrise, glaubt sie, könnte eine Bedrohung für die Demokratie werden. Parteiverbote hält sie für keine wirksame Lösung, denn daraus könnten Antidemokraten Kraft ziehen. „Bildung hilft“, ist sie überzeugt, und plädierte für kritisches Engagement jedes einzelnen nach dem Motto „Wehret den Anfängen“. Schreiduelle im Bundestag, wie sie von und mit der AfD häufig ausgetragen werden, sind ihrer Ansicht nach dem falschen Weg. „Wir müssen kämpfen, aber ruhig und souverän und in einer Art, dass andere mitmachen wollen“, lautet ihr Rezept.
Europa sieht sie trotz antidemokratischer Entwicklungen in Ungarn und Polen als Hort der Demokratie und Menschenrechte und ist für die Aufnahme weiterer Staaten wie Georgien, Moldau und der Ukraine, aber auch der Balkan-Anwärterstaaten, die nach Kräften bei ihrem Weg zu den geforderten demokratischen Aufnahmekriterien unterstützt werden sollten. „Eine Politik der offenen Tür und der offenen Hand“, meinte sie. Eine wertebasierte Außenpolitik, in der gesagt wird, was nicht geht, hält sie für den richtigen Weg im Umgang mit „nicht lupenreinen“ Demokratien, während ein Abrutschen in Lagerdenken ihrer Ansicht nach fatal wäre.
Ein klarer Wertekompass schützt die Demokratie
„Wir müssen einen klaren Wertekompass zeigen, die Mehrheit muss laut sein, sich für Offenheit, Menschenrechte und Demokratie stark machen, Brücken bauen und denen das Wasser abgraben, die Hass und Hetze säen“, forderte sie zum Abschluss ihrer Ausführungen.
In der anschließenden lebhaften Diskussion ging es unter anderem um die Situation in den Ländern Indien und Myanmar, in denen sich Childaid Network engagiert. Diskutiert wurden Wege aus der Abhängigkeit, beispielsweise von China, um richtige Schritte in der Diplomatie, sinnvolle Friedensgespräche, die nach Ansicht der Ministerin erst möglich sind, wenn Russland erkennt, dass es den Krieg mit der Ukraine nicht gewinnen kann, um Hochachtung und respektvollen Umgang miteinander, weil man in der Politik Kompromisse braucht. Viele unterschiedliche Aspekte, die Anregung boten, sich eigene Gedanken zu machen.